Archiv für den Monat Januar 2016

Was Hänschen nicht lernt ….

Es scheint unglaublich, dass jeder siebente Erwachsene in Deutschland nicht ausreichend lesen und schreiben kann. Deutschland hat doch Schulpflicht! Es gibt doch flächendeckend Schulangebote für alle! Wie kann die Grundbildung im Erwachsenenalter so mangelhaft sein?

  • Denkfehler führen nicht zum Ziel

    Denkfehler führen nicht zum Ziel

    Denkfehler Nummer 1: Schulbildung hält ein Leben lang.
    Lesen, schreiben, rechnen und mitdenken sind vergängliche Fähigkeiten. Wie alle anderen menschlichen Fähigkeiten müssen sie regelmäßig trainiert werden. Erwachsene, die im praktischen Berufsleben stehen, haben nicht mehr regelmäßig Anlass längere Texte zu lesen oder zu schreiben. Langsam und unbemerkt kommen sie aus der Übung und machen mehr Fehler als zuvor.

  • Denkfehler Nummer 2: Die Schule kann alle Grundbildungsbedarfe abdecken.
    Zur Grundbildung einer Gesellschaft gehören alle Fähigkeiten, die wir benötigen, um im Alltag zurechtzukommen. Dazu gehören z.B. die Fähigkeiten ein Konto einzurichten und zu verwalten, einen Vertrag abzuschließen oder eine Steuererklärung zu machen. Diese Dinge kann man nicht alle in der Schule lernen. Erwachsene brauchen daher immer wieder angemessene Angebote, um ihren Grundbildungsbedarf zu decken.
  • Denkfehler Nummer 3: Grundbildung ist ein festes Hab und Gut.
    Grundbildung ist keine gesicherte Errungenschaft unserer Kultur. Sie schafft nur die Voraussetzungen, damit wir an gesellschaftlichen Aktivitäten teilnehmen können, bei denen Lesen und Schreiben erforderlich sind. Nur dort wo wir Lesen und Schreiben für die persönliche Entwicklung nutzen, bleibt uns unsere Bildung erhalten.
  • Denkfehler Nummer 4: Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr.
    Hans kann ein Leben lang lernen, und er muss es auch. In dem Maße wie sich das Umfeld ändert und entwickelt, muss jeder Erwachsene in Deutschland dazulernen, ob in der Familie oder am Arbeitsplatz. Auch Menschen, die in der Schule nicht gut lesen und schreiben konnten, können als Erwachsene ihre Fähigkeiten auffrischen und verbessern.

Ein Land, das auf Grund dieser Denkfehler an Erwachsenenbildung spart, verspielt seine Chance in der modernen Gesellschaft zu bestehen.

Foto: pixabay monument-1027554_1920

Grundbildungszentrum

Wie kann die Nationale Dekade zur Alphabetisierung und Grundbildung in Sachsen-Anhalt umgesetzt werden? Wie könnte eine flächendeckende Grundbildung für Erwachsene vor Ort aussehen?
Die Erfahrungen der letzten Jahre haben gezeigt, dass eine zentrale Netzwerkstelle nicht ausreicht, um in der Fläche zu wirken. Die Entwicklung regionaler Grundbildungszentren scheint eine gute Ergänzung zu sein. Ein Grundbildungszentrum kann als verbindliche Kooperation vor Ort handeln. Es kann Initiativen und Angebote bündeln, lokal sinnvoll gestalten und sie in die Öffentlichkeit tragen.
Grundbildungszentren sind mehr als Lernorte. Sie funktionieren eher wie ein gut strukturierter Arbeitskreis, der verschiedene Partner befähigt, das Thema Grundbildung in ihren Kommunen zu verorten. Jobcenter, Volkshochschulen und freie Bildungsträger sind als Kooperationspartner gefragt. Wertvoll sind aber auch andere, weniger offensichtliche Bildungspartner. Dazu gehören die Bibliotheken, das Theater, die öffentliche Presse, Lokale Bündnisse, sowie kostenfreie Wochenzeitungen und Vereine.

Photo credit: timjmansfield via Foter.com / CC BY

Photo credit: timjmansfield via Foter.com / CC BY

Besonders wichtig ist es, vielseitige und niedrigschwellige Angebote für Erwachsene zu entwickeln, die sie in ihrer Teilhabe stärkt. Dabei geht es nicht nur um Lesen und Schreiben, sondern auch darum, Gesundheit, finanzielle Fähigkeiten oder andere Grundkompetenzen ein Leben lang zu unterstützen. Das Grundbildungszentrum ist die zentrale Schaltstelle, die den Bedarf für Grundkompetenzen in der Region nicht aus den Augen verliert.

Obwohl sehr viele Menschen in Deutschland fehlerhaft lesen und schreiben, ist die Alphabetisierung und Grundbildung für Erwachsene in den letzten zehn Jahren kaum vorangekommen. Ein wichtiger Grund für den langsamen Fortschritt ist der fehlende politische Wille. Die Politik hat – trotz international gesteckter Ziele- der fortlaufenden Grundbildung für Erwachsene bislang keine Priorität eingeräumt. Um diese Situation regional zu ändern, übernimmt das Grundbildungszentrum auch eine wichtige bildungspolitische Funktion.

Die Arbeitsschwerpunkte eines regionalen Grundbildungszentrums sind:

  • Aufsuchende Bildungsarbeit: attraktive Lernangebote schaffen, Teilnehmer gewinnen, Selbsthilfestrukturen entwickeln, arbeitsplatzorientierte Lernangebote unterstützen.
  • Kooperation und Netzwerkarbeit: Kooperationspartner finden, Behörden und Einrichtungen zum Thema sensibilisieren und schulen, Angebote koordinieren, gemeinsame Strategien und Strukturen für die Region entwickeln.
  • Transfer von Wissen und Erfahrung: Professionalisierung der Lehrenden, Fortbildungen und Fachtage zum Thema Grundbildung in der Region,
  • Öffentlichkeitsarbeit: auf das Thema aufmerksam machen, zur Teilhabe einladen, Angebote bewerben, nationale Kampagnen unterstützen
  • Politische Wirksamkeit: Nationale Dekade für Alphabetisierung und Grundbildung aktiv umsetzten, politische Ziele einfordern, vernetzt handeln.

Solidarität heißt heute nicht mehr so sehr, die Schwachen zu schützen   –   sondern sie so zu stärken, dass sie an der Gesellschaft teilhaben können.

(Martin Dornes im Interview mit Psychologie Heute, Mai 2012)