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Wissen ist kein Besitz

Paolo Freire macht uns Mut, neugierig und kritisch auf Bildung zu schauen. Für ihn ist Bildung nie ein neutraler Prozess. Er fragt immer, welche Interessen hinter unserem Wunsch nach Bildung stehen, und mit welchem Begriff von „Wissen“ wir unser Leben gestalten. Wissen kann unserer „Menschwerdung“ dienen, oder uns „entmenschlichen“, uns beschämen und zu unserer Unterdrückung beitragen.

Paolo Freire beschreibt in seinem Buch Pädagogik der Unterdrückten  zwei Arten von Pädagogik. Die erste, die uns entmenschlicht, gehört zum Bankiers-Konzept der Erziehung. Hier ist Wissen ein Instrument der Macht. Es wird „vermittelt“ oder „weitergegeben“, und der Wert des Wissens wird durch zertifizierte Abschlüsse angezeigt. Menschen mit viel Wissen sind wichtiger und mächtiger als die, die keinen offiziellen Abschluss haben.

Im Mittelpunkt des Bankier-Konzepts steht das kulturelle Erbe, das konserviert und vermittelt wird (vgl. S. 57). Das kulturelle Wissen wird zum Produkt und es verliert seine verwandelnde Kraft. Beim Wissenstransfer „folgen“ die Menschen einer vorgegebenen Wirklichkeit. Der Lehrplan ist festgeschrieben und die Deutungshoheit des menschlichen Erlebens bleibt beim System. „Es ist nicht überraschend, dass das Bankiers-Konzept der Erziehung Menschen als anpassbare, beeinflussbare Wesen betrachtet…..[Menschen entwickeln hier nicht] jenes kritische Bewusstsein, das entstehen würde, wenn sie in die Welt als Verwandler dieser Welt eingreifen würden.“ (S. 58/59) „So stehen wir vor einem System, das im Namen der „Erhaltung von Kultur und Wissen“ weder wahre Erkenntnis noch wahre Kultur vermittelt.“ (S. 65)

Im Gegenzug dazu beschreibt Freire befreiende Erziehungsarbeit als einen interaktiven und lebensnahen Prozess, der unsere Fähigkeit zur kreativen Gestaltung unterstützt. Durch gemeinsame Aktionen entsteht ein Dialog, bei dem der Mensch im Mittelpunkt steht und sich über seine Wahrnehmungen der Wirklichkeit unterhält. Der lebendige Bildungsprozess ist so gleichermaßen auf Lehrer:innen und Lernende ausgerichtet. „Echte Bildungsarbeit wird nicht von A für B oder von A über B vollzogen, sondern vielmehr von A mit B, vermittelt durch die [Erfahrungen in der] Welt.“ (S.77) Eine echte Lernbeziehung beginnt also dort, wo eine Problemsituation im Mittelpunkt steht und die schöpferische Kraft des Wissens von A und B zum Einsatz kommt. Die problemformulierende Bildungsarbeit „löst eine fortwährende Enthüllung der Wirklichkeit aus.“(S. 67), in der die aktive und kritische Auseinandersetzung mit eben dieser Wirklichkeit den Lernprozess bestimmt. „Bildung wird so fortwährend in der Praxis neu gemacht“ (S. 68).

Ein weiterer Aspekt der befreienden Bildungspraxis ist die „Menschwerdung“, die Freire als Achtung vor dem einzelnen Menschen, der noch nicht vollkommen ist, beschreibt. Das Wissen um die eigene Unvollkommenheit gilt hier nicht als Defizit, sondern als Basis für menschliche Solidarität. So entsteht in der Praxis eine Fehlerkultur, die Probleme klar und kritisch benennt, ohne dabei den Menschen abzuwerten. Menschen, die „Probleme haben“ sind Menschen, die lernen und gestalten können. Sie werden ermutigt, genau hinzuschauen, die Probleme zu analysieren und Neues zu wagen.

Für Freiere entscheiden also nicht die kulturellen Inhalte, sondern die dialogische Didaktik, ob eine Bildungspraxis unterdrückend oder befreiend ist. Wenn Bildung darauf ausgerichtet ist, Menschen einer vorgegebenen Wirklichkeit anzupassen, wirkt sie unterdrückend. Wenn es aber darum geht, die eigene Wirklichkeit kritisch zu beleuchten und zu verwandeln, ist Bildung eine Praxis der Freiheit.

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Was ist der Mensch?

We must not allow other people’s limited perceptions to define us. (Virginia Satir)

Wir dürfen nicht zulassen, dass uns die begrenzte Wahrnehmung anderer Menschen definiert.

Paolo Freire hat schon früh in seinem eigenen Leben erlebt, wie die begrenzte Wahrnehmung anderer Menschen ihn „enthumanisiert“ hat. Nachdem sein Vater starb und die Familie verarmte, musste die Mutter mit ihren vier Söhnen umziehen. Paolo Freire wurde wurde aus dem gutbürgerlichen Bildungsmilieu ausgeschlossen und er musste auf eine „arme“ Schule gehen. Dort wurde er wegen seiner bürgerlichen Herkunft von seinen neuen Schulkameraden abgelehnt. Er war nirgends willkommen. Er hatte ständig Hunger, vermisste seine alten Freunde und entwickelte Lernschwierigkeiten. Er wollte die Schule abbrechen und wäre auf der Straße gelandet, wenn sich nicht Mutter und Brüder, laut Freire, für seine Menschwerdung eingesetzt hätten. Sein ältester Bruder brach sein Studium ab, um Geld zu verdienen, und seine Mutter überzeugte den Direktor einer katholischen Privatschule, ihrem Sohn ein Stipendium zu geben.

Wenn Paolo Freire später über diese frühen Erfahrungen sprach, machte er deutlich, (1) wie die Widersprüche seiner „Grenzüberschreitung“ (von reich zu arm) ihm das kritische Denken ermöglicht haben, und (2) was für eine psychische Gewalt mit einer defizitären Sprache ausgeübt werden kann. (vgl. PN Rule: Dialogue and Boundary Learning).

Die Frage nach einem humanen Ansatz in der Grundbildung ist also immer auch eine Frage nach unserem Menschenbild. Was bedeutet es Mensch zu sein?

Menschen sind Autorinnen und Autoren ihres eigenen Lebens, (Julian Nida-Rümelin)

Menschen sind unvollendete Wesen, die sich ihrer Unfertigkeit bewusst sind. In den konkreten Zusammenhängen ihres Lebens halten sich die Möglichkeiten zur Humanisierung und Enthumanisierung die Wage. (Paolo Freire)

Eine Dekade der Alphabetisierung und Grundbildung, die geringe Literalität über den funktionalen Analphabetismus operationalisiert (Presseheft leo 2018) und sich auf die Defizite der „funktionalen Analphabeten“ konzentriert, scheint nicht sehr human zu sein.

Paolo Freire dagegen hat sich in seiner Arbeit mit Erwachsenen, die nicht lesen und schreiben konnten, nicht auf ihre Defizite konzentriert. Er hat sie nach ihren konkreten Problemen und Wünschen gefragt. Er hat sie zur persönlichen Entfaltung ermutigt und sie dafür sensibilisiert, dass Schrift ein Machtinstrument ist. Dieses Machtinstrument hat er dann – durch seine dialogische Didaktik – in der  Alphabetisierung zum befreienden Instrument der Menschwerdung gemacht.

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Humane Bildung als Praxis der Freiheit

Foto: Winkler

Paolo Freiere spricht von einer Pädagogik,  in der unsere Worte zur Praxis der Freiheit werden können. Indem wir frei sprechen und handeln, werden wir frei. Humanisierung ist Emanzipation und Emanzipation macht uns menschlich.

Hier entsteht eine spannende Resonanz zwischen Paolo Freire’s Pädagogik und den ersten Anfängen der systemischen Familientherapie nach Virginia Satir (1916 –1988). Virginia Satir wird oft  auch als Mutter der Familientherapie bezeichnet. Für sie gelten fünf Freiheiten, die unser „Menschschein“ ausmachen:

  1. Die Freiheit zu sehen und zu hören was im Moment wirklich da ist, anstatt was sein sollte, gewesen ist oder erst sein wird.
  2. Die Freiheit das auszusprechen, was ich wirklich fühle und denke, und nicht das, was von mir erwartet wird.
  3. Die Freiheit zu meinen Gefühlen zu stehen, und nicht etwas anderes vorzutäuschen.
  4. Die Freiheit um das zu bitten, was ich brauche, anstatt immer erst auf Erlaubnis zu warten.
  5. Die Freiheit in eigener Verantwortung Risiken einzugehen, anstatt immer nur auf Nummer sicher zu gehen und nichts Neues zu wagen.

Wie aktuell die Frage nach einem humanisierenden Bildungsansatz inzwischen wieder diskutiert wird, zeigt die online Bildungsforschungstagung 2021 des BMBF, an der in diesem Jahr 1200 Personen teilnahmen. Hier wurde Prof. Dr. Julian Nida-Rümelin (LMU München) mit folgendem Thema auf die zentrale Bühne gestellt: Eine Philosophie humaner Bildung. Seine Kernthese:

Die Aufgabe von Bildung ist es, Menschen zu Autorinnen und Autoren ihres eigenen Lebens zu machen. Bildung muss ganzheitlich gedacht und Bildungsreinrichtungen als wichtige Bestandteile der Sozialisation gesehen werden, damit insbesondere Benachteiligte nicht zurückbleiben – das zeigt die Pandemie sehr deutlich.

„Die Pädagogik der Unterdrückten, von echter, humanistischer (nicht humanitärer) Großzügigkeit beseelt, bietet sich als eine Pädagogik des Menschen dar.“ (Paolo Freire, Pädagogik der Unterdrückten, S. 41)

  • Wie verändert sich unser Blick auf Grundbildung Erwachsener, wenn es in unserer pädagogischen Arbeit um Satir’s fünf Freiheiten geht?
  • Inwiefern ist unsere derzeitige Bildungspraxis eine Praxis der „Unfreiheit“?
  • Wie wahrhaftig stufen wir das Interesse der aktuellen Bildungsakteure an humanisierender Bildung ein?

Ein Mann, ein Wort!

Das zentrale Werkzeug der Pädagogik der Unterdrückten ist das echte, wirksame Wort. Es benennt die Welt, wie sie wirklich ist. Es zwingt uns, nachzudenken und verlangt eine kritische, gestaltende Haltung. Mit dem Wort benennen wir eine Welt, die wir verändern können und sollen. Das echte Wort ist wirksam, laut Freire, weil es eine direkte Verbindung zwischen Reflexion und der Aktion herstellt. Gerade im Bildungsdialog dürfen diese beiden Elemente nicht getrennt werden. Reden ohne Praxis (Aktion) ist Verbalismus. Handeln ohne Reflexion ist Aktionismus.

Freire’s klare und kompromisslose Forderung, dass es in der Erwachsenenbildung eine direkte Wechselwirkung zwischen Theorie und Praxis geben muss, lässt uns aufhorchen. Hier werden die Rollen neu verteilt. Es geht hier nicht um Bildung (theoretisches Wissen) als Ziel, sondern das Wissen um Theorie ist immer Mittel zum Zweck. Reflexion ist keine Anleitung. Handeln ist kein Umsetzen eines theoretisch erarbeiteten Konzepts. Vielmehr handelt es sich um ein gemeinsames, den Menschen aus seiner Unwissenheit befreiendes Projekt, mit aktiven und theoretischen, reflektierenden Phasen.

Der Dialog zwischen Theorie und Praxis beginnt dort, wo die Menschen ihr Leben verändern wollen. Die Praxis (das gelebte Leben) liefert die Fragen. Die Theorie wird als Werkzeug eingesetzt, diese Fragen tiefer zu beleuchten. Das Ziel der gemeinsamen Arbeit ist, gute Handlungsmöglichkeiten zu finden. Handlungsmöglichkeiten wiederum werden praktisch erprobt und anschließend reflektiert.

Bei Paolo Freire gilt:

„Es gibt kein wirkliches Wort, das nicht gleichzeitig Praxis wäre. Ein wirkliches Wort sagen heißt daher, die Welt verändern“. (Pädagogik der Unterdrückten, S.71)

  • Welche „wirklichen Worte“ sprechen wir in der Grundbildung in diesem Jahr?
  • Wo ist bei uns echter, wirksamer Dialog zwischen Theorie und Praxis möglich?
  • Und mit welchen Fragen fangen wir an?

Paolo Freire zum 100. Geburtstag

Am 19. September 2021 ist der 100. Geburtstag von Paolo Freire . Dieses Jubiläum nehmen wir zum Anlass, sein Werk zu lesen und es in Bezug auf unsere Arbeit in Deutschland zu beleuchten.

Pädagogik der Unterdrückten

Das wohl wichtigste Buch von Paulo Freire war die Pädagogik der Unterdrückten.

Das portugiesische Original (1968) wurde 1970 ins Englische übersetzt und erschien 1971 erstmalig in Deutsch. Obwohl Freiere weltweiten Einfluss als Vordenker der Alphabetisierungsarbeit für Erwachsene genießt, ist sein Werk in Deutschland immer noch wenig bekannt. Die Gründe dafür sind vielfältig, nicht zuletzt, weil man Freire nicht ernsthaft lesen kann, ohne über die politischen Koordinaten der Grundbildungsarbeit in Deutschland nachdenken zu müssen.

Freire war Humanist. Er glaubte an die Würde eines jeden Menschen, an das menschliche Bedürfnis Freiheit und an den emanzipatorischen Auftrag der Erwachsenenbildung. (Kapitel 1) Voraussetzung für eine ermächtigende, wirksame Bildungsarbeit ist, laut Freire, eine dialogische Lernbeziehung (Kapitel 2). Das „Anhäufen von Wissen“ nach einem Bankierskonzept wird kritisch hinterfragt und weicht einer dialogischen Praxis. Im Dialog lernen bedeutet für Freire, gemeinsam lebensbezogene Probleme zu erkunden und zu lösen. Dabei stehen die Interessen des Lernenden im Mittelpunkt. Durch das aktive, dialogische Vorgehen entwickelt sich das kritische Bewusstsein von Lernenden sowie von Lehrenden und nährt eine kreative Imagination von Möglichkeiten.

Dialog als zentrales Element

Ein Kernstück der Arbeit ist das Erkennen, Benennen und Vertiefen von Themen, die für ein selbstbestimmte Leben der Lernenden wichtig sind. So werden sich die Menschen den Grenzen ihrer Lebenswelt bewusst und nehmen die damit verbundenen Widersprüche wahr. Weiterhin ermutigt sie der Dialog, die Welt kritisch zu reflektieren und neue Lösungen zu finden (Kapitel3). Die Alphabetisierung stellt für Freire in diesem Prozess kein eigenes Thema dar, sondern wird immer als Instrument der Teilhabe verstanden. Lerner üben sich an Formularen, weil sie Anträge stellen wollen. Sie lernen zu rechnen, weil sie die Kontrolle über ihr Geld haben wollen. Menschen, deren Alltag von einer Schriftkultur bestimmt wird, sollen Zugang zur Schrift haben, damit sie sich wehren und Umstände verändern können.

Bildung als Praxis der Freiheit

Im letzten Kapitel des Buches (Kapitel 4) weitet Paulo Freire seine Pädagogik auf einen gesellschaftlichen Befreiungsprozess aus. Er beschreibt, wie er sich die kulturelle Ermächtigung der Unterdrückten vorstellt. Wieder steht die dialogische Pädagogik im Mittelpunkt, denn nur durch ehrlichen und kritischen Dialog kann sich das menschliche Bewusstsein entwickeln. Freire war fest davon überzeugt, dass es diesen gesellschaftlichen Dialog braucht, damit die durch Alphabetisierung ermächtigten Lerner sich nicht einfach „weiter oben“ in die bestehenden Strukturen einreihen und zu neuen Unterdrückern werden.

In der Pädagogik der Unterdrückten zelebriert Freire die Fähigkeit der Menschen ihre Probleme zu lösen. Er betont die Kraft der Imagination von einer neuen Gesellschaft, die dort sichtbar wird, wo wir Bewusstseinsbildung und kritischen Dialog einsetzen. Trotz der vielleicht etwas idealisierenden Sprache ist es ein wichtiges Buch für unsere Zeit.